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Was Putin mit seiner Feuerpause wirklich bezweckt

Die 22. Brigade der Ukraine: Ein kommandierender Soldat gibt bei einer Nachtschießübung vor einem T-72 Panzer Anweisungen.
Die Kämpfe an der Front laufen trotz der von Putin verkündeten Feuerpause weiter – offenbar mit etwas niedrigerer Intensität. Dennoch ist die Ukraine skeptisch.Bild: Oliver Weiken/t-online

Was Putin mit seiner angeblichen Oster-Feuerpause wohl wirklich bezweckt

Die von Putin verkündete Feuerpause ist an der Front kaum zu spüren, Experten sehen in ihr keinen Impuls für Frieden. Schon 2023 gab es einen vielsagenden Präzedenzfall.
20.04.2025, 14:1820.04.2025, 16:17
Alexander Eydlin / Zeit Online
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Zeit Online

Die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin am Samstagabend unerwartet verkündete Feuerpause soll 30 Stunden halten – und wird laut Angaben der ukrainischen Regierung und des Militärs sowie Berichten von Militärbloggern und weiteren Beobachtern kaum eingehalten. Von mehr als 400 Fällen russischen Beschusses seit Beginn der Feuerpause um 18 Uhr am Samstagabend (Ortszeit) sprach etwa der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj. Noch während der Verkündung der Waffenruhe hatten mehrere ukrainische Regionen wegen gesichteter russischer Drohnen Luftalarm ausgerufen. In der Region Dnipropetrowsk kam es nach örtlichen Angaben zu Drohnenangriffen, zudem meldeten die Behörden im südukrainischen Cherson ebenfalls Beschuss.

Sowohl ukrainische Beobachter als auch internationale Experten sehen in der Kampfpause keinen ernsthaften Impuls für einen anhaltenden Waffenstillstand – und begründen das ebenfalls damit, dass selbst die kurze Waffenruhe kaum zu halten scheint. «Diese Feuerpause wird wahrscheinlich nicht anhalten», schreibt etwa das Institute for the Study of War (ISW), «da die russischen Streitkräfte offenbar in den ersten Stunden der Waffenruhe weiterhin begrenzte Offensivoperationen und wahllosen Beschuss entlang der Frontlinie durchgeführt haben.»

Zudem verweist das ISW auf den gemeinsamen Vorschlag der USA und der Ukraine für eine 30-tägige vollständige Waffenruhe, den Russland mehrfach abgelehnt habe. Auch Selenskyj schlug am Samstag als Reaktion auf Putins Ankündigung vor, die Waffenruhe auf diesen Zeitraum auszudehnen – bislang ohne Reaktion aus Russland.

Ukraine meldet niedrigste russische Verluste in diesem Jahr

«Ich habe versucht, einen Frontabschnitt zu finden, in dem die Russen die Feindseligkeiten beendet haben», schrieb am Samstagabend Emil Kastehelmi, der Gründer der finnischen Beobachtungsgruppe Black Bird Group, die den Frontverlauf in der Ukraine ausführlich kartiert. «Von einem solchen Ort habe ich jedoch bislang nicht gehört.»

Am Sonntagvormittag schien dieser Stand leicht veraltet zu sein: Ukrainischen Berichten zufolge ging die Intensität der Kampfhandlungen offenbar etwas zurück. Die Hinweise darauf sind jedoch bislang vage und unzuverlässig. Einer davon: Die tägliche Angabe des ukrainischen Generalstabs zu russischen Schlachtfeldverlusten der vergangenen 24 Stunden. 950 russische Soldaten seien getötet oder verletzt worden, teilte das ukrainische Militär mit. Zum ersten Mal in diesem Jahr lag die Zahl damit unter 1'000; durchschnittlich waren es seit Jahresbeginn etwa um ein Drittel mehr. Die Nato hält die ukrainischen Angaben für weitgehend glaubwürdig – doch selbst wenn sie das nicht sein sollten gilt: Dass das ukrainische Militär eine niedrigere Zahl meldet, kann als eine Art inoffizielle Bestätigung dafür gelesen werden, dass die russischen Angriffe zwar weiterlaufen, in ihrer Intensität aber etwas zurückgegangen sind. Einen Beweis dafür ersetzt die Mitteilung jedoch nicht.

Von anhaltenden Angriffen berichtet auch die ukrainische Analystengruppe DeepState, die enge Kontakte zum Militär hat: «Orechiw, Kamjanske – Einschläge von Artillerie, feindliche Drohnen im Einsatz. (...) Andrijiwka und Olexijiwka – Beschuss. Uspeniwka – Bodenangriffe. Süden von Pokrowsk – Beschuss von Stellungen aus Minenwerfern alle 20 bis 30 Minuten. (...) Frontabschnitt Lyman – Intensität (der Kämpfe) gesunken. Frontabschnitt Kupjansk – Beschuss.» 

An einzelnen Frontabschnitten gebe es «tatsächlich eine Feuerpause», aber eben nur ein einzelnen, schrieb die Gruppe am Samstagabend. Zudem bekundeten die Analysten Sorge angesichts der unerwarteten Ankündigung Putins: «Eine Waffenruhe kann nicht einseitig sein, auf solche Dinge muss man sich vorab einigen. Und wir hoffen, dass unsere militärisch-politische Führung sich nicht auf Provokationen einlässt.» 

Ähnliche Befürchtungen äusserte auch das ISW: Russland könne «unbegründete Anschuldigungen eines Bruchs der Feuerpause der Ukraine ausnutzen», um so die Gespräche über einen längeren Waffenstillstand zu untergraben. Konkrete Vorwürfe der Ukraine an Russland, ukrainischen Beschuss zu simulieren, wurden bislang nicht bekannt. Am Sonntagmorgen berichteten russische Nachrichtenagenturen allerdings von Explosionen im seit 2014 besetzten Donezk. Dies könnte jedoch auch damit erklären, dass die Ukraine angegeben hatte, sich zwar auf die Feuerpause einzulassen, russischen Beschuss jedoch stets zu entgegnen.

Während die Hintergründe der Geschehnisse in Donezk noch unklar sind, steht für die russischen Staatsmedien wenig überraschend bereits fest, wer die einseitig beschlossene Feuerpause gebrochen haben soll. «Ukrainische Streitkräfte greifen Donezk während Feuerpause an», titelte etwa die staatliche Nachrichtenagentur Tass. Die regierungstreue Nachrichtenagentur Interfax berichtete unterdessen, die Ukraine habe russische Stellungen 444 Mal attackiert.

Ukraine meldet russische Truppenbewegungen – aber weniger Bomben

Ukrainische Beobachter sorgen sich wiederum, Russland könne die Feuerpause zum eigenen militärischen Vorteil nutzen. Schon bei früheren russischen Initiativen für auf wenige Tage begrenzte Feuerpausen verwies die Ukraine darauf, dass das für ungestörte Truppenbewegungen oder Nachschublieferungen an die Front genutzt werden könnte – was freilich für beide Seiten gilt. Der ukrainische Militärexperte Olexandr Kowalenko schrieb etwa auf Telegram: «Das ist keine 'Feuerpause', sondern eine Reduzierung der Intensität von Kampfhandlungen.» In nahezu der gesamten Kampfzone würde für Russland derzeit ein «vergleichsweise risikofreie Ansammlung von Reserven» möglich sein. 

Kowalenko verwies in diesem Kontext auf offizielle Warnungen der Militärführung aus den vergangenen Tagen, wonach sich die russische Armee nach mehreren Wochen mit minimalen Gebietsgewinnen auf neue, grössere Attacken vorbereite. Und tatsächlich hatten Videoaufnahmen in den Tagen vor der Waffenruhe grössere russische Bodenangriffe etwa in der Region Saporischschja gezeigt, wo schon lange eine neue russische Offensive befürchtet wird. Nach bisherigem Kenntnisstand sind die Angriffe grösstenteils gescheitert – doch das Ausmass einer neuen Offensive hatten sie ohnehin nicht.

In eine ähnliche Richtung gingen am Sonntagvormittag auch die Berichte der Beobachtungsgruppe DeepState. «Der Gegner rotiert Soldaten (...) und versucht, möglichst nah an die Kampflinie zu kommen.» Auch sei zu beobachten, dass Russland seine Stellungen verstärke. Zugleich könne aber nicht geleugnet werden, dass die Intensität der Kämpfe gesunken sei: Zwar würden weiterhin Drohnen und Artillerie eingesetzt, allerdings kaum Gleitbomben abgefeuert. Normalerweise meldet die Ukraine den Einsatz von deutlich mehr als 100 solcher Bomben durch Russland pro Tag. Die russische Luftwaffe sei derzeit, schreibt DeepState, nicht aktiv.

«Minimale Geste guten Willens» für Trump

Auch politisches Kapital könnte Putin aus der Waffenruhe schlagen, mutmasste bereits am Samstag der finnische Militärexperte Kastehelmi. Die Feuerpause sei vor allem ein Signal an die US-Regierung, die sich zuletzt frustriert über die stockenden Gespräche mit Russland gezeigt und ihren Ausstieg daraus angedroht hatte: «Eine minimale Geste guten Willens könnte in den USA politische Punkte kaufen, auch wenn ihr tatsächlicher Einfluss auf den Krieg mutmasslich gering sein wird.»

Ähnlich wie Selenskyj argumentierte Kestehelmi: «Eine kurze, 30-stündige Waffenruhe deutet nicht darauf hin, dass eine Friedenslösung gefunden wurde.» Anders könne es bei dem ukrainischen Vorschlag einer einmonatigen Kampfpause sein, auf die Putin sich nicht einlassen wolle, weil die Ukraine mutmasslich mehr davon profitiert hätte als Russland. Sein Fazit: «Russland nutzt die Feuerpause als politisches Instrument und als Erweiterung der militärischen Auseinandersetzung.»  

Auf solche «minimalen Gesten guten Willens» setzte Russland in den Gesprächen mit den USA in den vergangenen Wochen bereits mehrfach. So hatte Putin dem US-Präsidenten Donald Trump in ihrem Telefongespräch Mitte März zugesagt, das westliche Schwarze Meer zu räumen. Ein Gebiet also, in das sich russische Kriegsschiffe wegen der kampfstarken ukrainischen Seedrohnen, die zahlreiche Kriegsschiffe versenkt hatten, ohnehin monatelang nicht mehr begaben. 

Und auch der von Putin zugesagte Stopp von Angriffen auf Energieanlagen erfolgte – praktischerweise – erst nach Ende des Winters. Zu einem Zeitpunkt also, in dem sie ohnehin an Relevanz verloren, während ukrainische Drohnenangriffe auf russische Treibstofflager und Raffinerien nicht von einer Jahreszeit abhängen. Von derartigen, auf das Kampfgeschehen einflusslosen Gesten liess sich Trump bislang aber offenbar beeindrucken; sein Sonderbeauftragter Steve Witkoff schwärmte nach seiner dritten Moskaureise binnen weniger Monate vom angeblichen Friedenswillen des russischen Präsidenten.

2023 folgte auf eine Feuerpause der Sturm auf Bachmut

Ein weiterer Faktor, der für Skepsis spricht: Eine Waffenruhe als strategisches Mittel des Krieges wäre nichts Neues. Am 5. Januar 2023 schlug der Putin-Vertraute und Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kirill eine 36-stündige Waffenruhe vor. Schon damals war der Schritt nicht mit der Ukraine abgesprochen. Putin verkündete daraufhin, den «Vorschlag» des Kirchenoberhauptes annehmen zu wollen. 

Die Ukraine berichtete wiederum, es habe keinen Stopp der russischen Angriffe gegeben. Wenige Tage später verkündete Russland die vollständige Kontrolle über die ostukrainische Stadt Soledar. Ihre Eroberung brachte die russische Offensive auf das benachbarte Bachmut voran und ebnete den Weg zur weitgehenden Einkreisung der Stadt, in der sich in den Folgemonaten eine der blutigsten Schlachten des Krieges ereignete.

Jetzt auf

Der Führung in Kyjiw scheint das mehr als gegenwärtig zu sein. «Der Vorschlag für eine vollständige und bedingungslose 30-tägige Waffenruhe liegt weiterhin auf dem Tisch», sagte Selenskyj. «Die Antwort darauf muss von Moskau kommen.»

Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.

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39 Kommentare
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B-M
20.04.2025 14:53registriert Februar 2021
Manchmal stelle ich mir nach wie vor vor, wie die Lage jetzt wäre, wenn der Westen gleich am Anfang entschieden eingegriffen hätte.
Ich glaube, Putler hätte schon lange in einem Bunker Selbstmord begangen.
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MaribelH
20.04.2025 14:30registriert September 2023
Putin spielt das solange, in der Hoffnung, dass sich die USA resigniert zurückziehen. Und ich befürchte , dass dieser Plan aufgehen wird.
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frank frei
20.04.2025 15:33registriert September 2018
«Ukrainische Streitkräfte greifen Donezk während Feuerpause an», titelte etwa die staatliche Nachrichtenagentur Tass.

Bin gespannt, wie Trump diese Steilvorlage nutzen wird, um seinem friedliebenden Freund im Kreml zu helfen.
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